Koordinierte Interaktion
Die Verwirklichung einer Absicht wäre einfach, wenn sich ein Lebewesen mit seinem selbst-getriebenen Verhalten ganz einfach selbst in den gewünschten Zustand versetzen könnte und fertig. Leider funktioniert es so einfach aber nicht. Das selbst-getriebene Verhalten eines Lebewesens kann aus eigener Kraft nur eine beschränkte Wirkung erzielen. Mit ihren Absichten streben Lebewesen aber eine Wirkung an, die über die isolierte Wirkung ihres selbst-getriebenen Verhaltens hinausgeht. Sie benötigen deshalb zur Verwirklichung ihrer Absichten die Mitwirkung anderer Elemente, indem sie mit ihnen interagieren:
- Sie üben über ihr selbst-getriebenes Verhalten eine Wirkung auf ein oder mehrere andere Elemente ihrer Umgebung aus (Aktion)
- und diese wirken daraufhin auf sie zurück (Reaktion).
Um diesen Vorgang klarer verständlich zu machen, möchte ich zunächst die unkoordinierte Interaktion zweier lebloser Materie-Objekte darstellen, um darauf aufbauend deutlich zu machen, was genau bei Lebewesen anders ist:
Stellen wir uns zum Beispiel zwei kugelförmige Himmelskörper ähnlicher Größenordnung vor, die sich auf ihrem Weg durchs All so nahekommen, dass sie sich gegenseitig gravitativ beeinflussen. Das heißt, sie ziehen sich wechselseitig an und beeinflussen so wechselseitig ihre Bahnen. Der Einfluss, den sie bei ihrer Begegnung aufeinander ausüben, ist
- zum einen von ihren Eigenschaften wie Masse und Geschwindigkeit abhängig
- und zum anderen von der gravitativen Verbindung, die ab einer bestimmten Entfernung zwischen ihnen entsteht und dann umso stärker wird, je näher sie sich kommen.
Die beiden Himmelskörper haben als materielle Objekte ein gesetzmäßiges Verhalten. Ihr Verhalten ist unter bestimmten Bedingungen immer gleich. Man kann ihre Flugbahnen einzeln berechnen und auch die Flugbahnen, die sich aus ihrer Begegnung ergeben. Aber die beiden Himmelskörper können das Resultat ihrer Begegnung nicht beeinflussen. Es ist einfach irgendwie – zwar gesetzmäßig (berechenbar), aber das Resultat ihrer Begegnung ist nicht beabsichtigt. Die beiden Himmelskörper können nicht bestimmte Zielzustände (Absichten) anstreben. Ihre Begegnung ergibt einfach irgendein – wenn auch berechenbares – Resultat.
Machen wir nun ein Gedankenexperiment und hauchen einem der beiden Himmelskörper ein kleines bisschen Leben ein:
Nehmen wir an, einer der beiden Himmelskörper könne seine Geschwindigkeit selbstständig verändern, und zwar nur seine Geschwindigkeit. Seine Flugrichtung kann er nicht selbst verändern. Dann könnte er sich sagen: „Ich möchte diese Begegnung mit dem anderen Himmelskörper für eine Richtungsänderung nutzen, zu der ich allein aus eigener Kraft nicht fähig bin. Ich werde meine Geschwindigkeit so verändern, dass sich durch die Begegnung eine ganz bestimmte von mir beabsichtigte Änderung meiner Flugrichtung ergibt.“
Diese „Überlegung“ beruht darauf, dass eine Veränderung der Geschwindigkeit eines der beiden Himmelskörper die Entfernung ihrer Begegnung beeinflusst und damit auch das Ausmaß der gegenseitig ausgeübten gravitativen Wirkung. An dieser Stelle sieht man, wie die Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten es ermöglicht, bestimmte Absichten zu verwirklichen. Genau diese Art der Erkenntnis und Anwendung von Gesetzmäßigkeiten auf die Steuerung des Verhaltens ist die eigentliche Aufgabe des rationalen Verstandes.
Das Ganze funktioniert aber nicht mehr, wenn der zweite Himmelskörper auf die gleiche Weise „zum Leben erwacht“ und ebenfalls seine Geschwindigkeit verändern möchte, um das Resultat der Begegnung entsprechend seinen Interessen zu beeinflussen. Dann stehen die beiden vor der Aufgabe, durch Abwägung ihrer Interessen einen Kompromiss zu finden.
Würde unser imaginärer zum Leben erwachter Himmelskörper sowohl seine Geschwindigkeit als auch seine Flugrichtung aus sich selbst heraus beeinflussen können, dann bräuchte er die Interaktion mit dem anderen Himmelskörper für eine Richtungsänderung nicht. Aber dann würde er sich vielleicht sagen: „Ich kann zwar Geschwindigkeit und Flugrichtung aus eigener Kraft verändern, aber nicht meine Masse. Also nutze ich die Begegnung zu einer Kollision (mechanischer Einfluss), um meine Masse zu verändern.“ (Ob das dann eine Massevergrößerung oder Masseverkleinerung ist, sei jetzt mal dahingestellt. Das scheint nicht so recht planbar. Aber so ist es ja mit vielen menschlichen Vorhaben auch.)
Das ist das Prinzip koordinierter Interaktion, wie es Lebewesen mit ihrem selbst getriebenen Verhalten anstreben: Die Interaktion mit anderen Elementen (beeinflussen und beeinflusst werden) wird so zu steuern versucht, dass bestimmte Zielzustände (die Absichten) erreicht werden, die nicht durch selbst getriebenes Verhalten allein erreichbar sind.
Koordinierte Interaktion benötigt mehrere Voraussetzungen:
- die Möglichkeit, das eigene Verhalten ohne den äußeren Einfluss anderer Elemente zu variieren (selbst-getriebenes Verhalten)
- irgendeine Form von Wahrnehmung der Umgebung, um Informationen für die Koordination der Interaktion zu erhalten
- einen Steuerungsmechanismus, der das eigene Verhalten ermittelt und umsetzt
Absichtliches Verhalten basiert auf koordinierter Interaktion und koordinierte Interaktion erfordert selbst-getriebenes Verhalten, Wahrnehmung und eine Steuerung.